Zu diesem Gedenktag findet heute ab 16.00 Uhr eine zentrale Veranstaltung statt. Diese beginnt auf dem jüdischen Friedhof an der Freiligrathstraße. Dann hält dort Bürgermeister Ulrich Schulte neben anderen eine Rede gegen das Vergessen.
Gegen 16.30 Uhr geht es im Ratssaal des Rathauses weiter. Dort werden Schülerinnen und Schüler des Albert-Schweitzer-Gymnasiums Passagen aus dem Buch „Die Apotheke im Krakauer Ghetto“ (geschrieben von dem Apotheker Tadeusz Pankiewicz) vorlesen.
Gegen das Vergessen.
Die Rede des Bürgermeisters:
"Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank, dass Sie heute zum jüdischen Friedhof gekommen sind, um der Opfer des nationalsozialistischen Unrechtsregimes zu gedenken.
Im letzten Jahr war dieser Gedenktag aus Corona-Schutzgründen eine reine Freiluftveranstaltung und die Vorträge der beteiligen Schülerinnen und Schüler an den Stationen in der Innenstadt wurden leider durch Nebengeräusche gestört. Umso mehr freue ich mich, dass auch in diesem Jahr wieder Schülerinnen und Schüler des Albert-Schweitzer-Gymnasiums an der heutigen Gedenkveranstaltung teilnehmen und wir anschließend eine Lesung von ihnen im Ratssaal in angemessener Stille erleben können.
Einen herzlichen Dank auch vorab an Frau Schilling, die die Veranstaltung wieder unterstützt und anschließend noch ein paar Worte sagen wird.
Herzlichen Dank auch an Tanja Böhne vom Stadtarchiv für die Vorbereitung dieser Gedenkveranstaltung und Genesungswünsche von dieser Stelle an unsere frühere Stadtarchivarin Martina Wittkopp-Beine, die auch gerne teilgenommen hätte.
Der 27. Januar ist witterungsbedingt kein guter Tag, um sich auf einem jüdischen Friedhof zu treffen. Fast jedes Jahr setzen wir uns hier mit Kälte, Regen oder Schnee auseinander. Die Fixierung des Holocaust-Gedenktages auf dieses Datum ist aber historisch bedingt, weil vor genau 78 Jahren, am 27.01.1945, das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit wurde.
Wenn man von der Befreiung des Konzentrationslagers spricht, ist das zunächst etwas Positives. Es gibt aber noch eine traurige Geschichte hinter dieser Befreiung. Es wurden keine Wachtposten überwältigt, es gab keine Kämpfe. Eigentlich waren die Insassen des Konzentrationslagers schon befreit. Tatsächlich traf die Rote Armee bei ihrem Vormarsch in Auschwitz nur noch 7.600 Menschen an. Es waren diejenigen, die bei der Flucht der SS-Truppen aufgrund von Krankheit zurückgelassen worden waren. Die große Masse der Auschwitz-Häftlinge, ca. 58.000 Menschen, musste sich Tage vorher bei minus 20 Grad auf einen rund 60 Kilometer langen Fußmarsch zu den Bahnhöfen machen. Viele erfroren oder starben an Erschöpfung und wer zurückblieb, wurde von der SS erschossen. Von den Bahnhöfen Gleiwitz und Loslau aus ging es dann in offenen Waggons in weiter westlich gelegene Lager, die zu diesem Zeitpunkt schon überfüllt waren und die ankommenden Menschen eigentlich gar nicht mehr aufnehmen konnten.
Man stelle sich das vor. Anstatt bei der Flucht vor der heranrückenden roten Armee, die Häftlinge zurückzulassen – im wahrsten Sinne des Wortes Ballast abzuwerfen, setzt die SS alle Hebel in Bewegung, um möglichst viele Menschen einer Befreiung zu entziehen. Und das im Januar 1945. Vier Monate später war das Deutsche Reich besiegt.
Diejenigen, die zurückgelassen wurden, weil sie zu krank waren, irrten einige Tage im Lager umher, bis die Rote Armee eintraf. Die russischen Soldaten wussten anfangs gar nicht, was sie mit ihnen machen sollten. Sie wurden nicht mit Jubelgeschrei empfangen. Die ausgemergelten, fast toten Gestalten starrten sie nur durch den Stacheldrahtzaun an. Der Anblick muss so schlimm gewesen sein, dass die jungen Soldaten gar nicht wussten, ob sie den Häftlingen Essen geben sollten oder ob es in ihrem Zustand tödlich ist, wenn sie zu viel essen.
Wenn wir also heute in dieser halben Stunde unter freiem Himmel frieren, dann sollten wir an die unglückseligen Menschen denken, die bei noch schlechteren Witterungsbedingungen in Todesmärschen aus Auschwitz deportiert wurden, nur um ihre Befreiung zu verhindern.
Meine Damen und Herren, wenn sie solche Berichte hören oder lesen, sind sie sicherlich ergriffen und schockiert. Aber nicht allen Menschen geht es so. Es gibt in Deutschland durchaus Gruppierungen, die glauben, dass diese Geschichten über Gräueltaten Erfindungen der Siegermächte sind, um nachträglich eigene Kriegsverbrechen zu rechtfertigen.
Haben sie letzten Sonntag den Tatort gesehen? Er handelte von einem Mord an einem 96-jährigen Mann. Mörder war ein 93-jähriger Mann, der mit ihm im selben Seniorenheim lebte und in dem Mordopfer seinen früheren Peiniger im KZ wiedererkannt hatte.
Die irritierendste Person in diesem Tatort war für mich der Enkel des Mordopfers. Er erklärte, dass sein Großvater im KZ doch nur seine Pflicht getan habe. Wenn jemand durch die Taten seines Großvaters zu Schaden gekommen sei, dann seien dies doch Verbrecher, Diebe oder Verräter gewesen. Quasi Personen, die es verdient hatten, um die es nicht schade war.
Bemerkenswertester Satz war, dass man doch wisse, dass die meisten Juden durch Seuchen umgekommen seien. Um diese Seuchen zu vermeiden und Läuse als Überträger abzutöten, hätte man ja schließlich das Gas verwendet.
Ich fand diese Aussage ziemlich heftig und mir wurde klar, dass dieser Enkel zwar nur eine fiktive Figur ist und dass der Satz aus dem Mund eines Schauspielers stammt, aber dass ein Teil unserer Bevölkerung genau so denkt, wie es gerade im Fernsehen ausgesprochen wurde.
Wir gedenken heute mit einer erfreulich großen Gruppe des Holocaust, aber es gibt in unserer Gesellschaft auch jene, die den Holocaust leugnen. Dazwischen ist die große Masse derjenigen, die mit der deutschen Vergangenheit nichts zu tun haben wollen. Die ein Mahnen und Gedenken nicht zukunftsgerichtet sehen, um eine Wiederholung zu vermeiden, sondern gleichsetzen mit einem persönlichen Schuldeingeständnis. Da sie sich aber für Verbrechen früherer Generationen nicht schuldig fühlen, ignorieren sie auch solche Gedenkveranstaltungen. Für diese Menschen ist die Aussage „es gibt keinen Grund sich schuldig zu fühlen, denn der Holocaust ist eine Erfindung der Siegermächte“ verlockend. Es ist quasi eine Fluchttür aus ihrer eigenen moralischen Gefängniszelle.
Es ist daher unsere Aufgabe zu vermitteln, dass es sich bei solchen Gedenkveranstaltungen wie am heutigen Tag nicht um persönliche Buße oder Schuldzuweisungen geht, sondern um ein Nicht-Vergessen, um einen Blick in die Vergangenheit, damit sich solche Ereignisse zukünftig nicht wiederholen.
Wichtig ist, dass sich möglichst viele Menschen in jungen Jahren mit der Thematik beschäftigen – so wie die Schülerinnen und Schüler des ASG, die heute hier sind – damit sie in Diskussionen sagen können: „Ich habe mich damit beschäftigt, ich habe darüber gelesen. So irrational und grausam wie es ist, es hat tatsächlich stattgefunden und ist keine politische Erfindung.“
Wir alle sind gefordert, dem Leugnen des Holocaust entgegen zu treten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit."