„Die heute verlegten Stolpersteine werden nicht die letzten sein.“

Neun weitere Gedenksteine wurden in der Plettenberger Innenstadt verlegt.

 

„Ich freue mich sehr, dass so viele Interessierte hier heute erschienen sind.“, sagte Plettenbergs Bürgermeister Ulrich Schulte direkt zu Beginn seiner Grußworte.

Bereits am 03. Juni wurden neun weitere Stolpersteine an drei Orten mitten in der Vier-Täler-Stadt durch den Künstler Gunter Demnig verlegt, zusätzlich zu den 13 bereits verlegten Gedenksteinen. Rund 50 Gäste nahmen neben dem Bürgermeister, der Stadtarchivarin a.D. Martina Wittkopp-Beine und ihrem Nachfolger Daniel Brandes teil.

„Hier wird kein zentraler Gedenkort geschaffen, sondern aufgezeigt, dass jüdische Mitmenschen mitten unter uns lebten.“, betonte Bürgermeister Ulrich Schulte. Es gebe keine jüdische Gemeinde mehr in Plettenberg, lediglich den Friedhof. In unserer Erinnerung seien die Großeltern liebevolle Menschen gewesen und doch seien sie mitunter damals an der Vertreibung und Verschleppung der Juden in Deutschland beteiligt gewesen. Und auch heute müsse man weiter wachsam sein, dass sich die Geschichte nicht wiederhole.

Während der Grußworte durch den Bürgermeister und die ehemalige Stadtarchivarin verlegte Künstler und Initiator Gunter Demnig schweigend die Stolpersteine, mit ihm wanderten die Menschen in der Innenstadt weiter, von Ort zu Ort, es gesellten sich weitere Passant:innen dazu. Erst an der Ecke Wilhelmstraße und Neue Straße, dann in der Graf-Dietrich-Straße und zuletzt an der Ecke Wilhelmstraße und Graf-Engelbert-Straße, bevor es dann zu einer zentralen Gedenkveranstaltung in die nahegelegene Stadtbücherei ging.

Dort ließ Martina Wittkopp-Beine eindrucksvoll die Lebensgeschichten der an diesem Tag im Mittelpunkt stehenden Opfer des Nazi-Regimes vor dem geistigen Auge der Gäste vorbeiziehen (die Ausführungen finden Sie weiter unten in dieser Pressemitteilung).

„Die Geschichte der Familie Löwenthal zeigt, wie dramatisch für die betroffenen jüdischen Familien - auch vor Ort in Plettenberg - die 30er Jahre verlaufen sind. Nachdem die Option auf Auswanderung von der nationalsozialistischen Regierung zunichtegemacht worden war, blieb nur noch der bittere Weg in die Konzentrationslager übrig, in denen sich die Vernichtungspolitik auf grausame Art und Weise für die Löwenthals, Hesses und Nussbaums offenbarte.“, führte Martina Wittkopp-Beine aus: „Mit dem Gedenken an diese Familien und den Stolpersteinen, die wir heute verlegt haben, würdigen wir diese jüdischen Menschen, die einst so selbstverständlich zu unserer Stadt gehörten. Sie mahnen uns zur Vorsicht und zur Wachsamkeit, sie mahnen uns, aufmerksam zu sein, was unsere Mitmenschen angeht. Die heute verlegten Stolpersteine werden nicht die letzten sein, die hier vor Ort dauerhaft an die ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger erinnern.“

Für die Stadt Plettenberg sei es eine zutiefst empfundene moralische Pflicht, diese Form der Erinnerung auch zukünftig noch denjenigen zuteilwerden zu lassen, die ihr Leben einem verbrecherischen Regime hatten opfern müssen und die bisher noch nicht durch Stolpersteine geehrt worden seien.

Die Stadt Plettenberg bedankt sich bei den Menschen hinter den Stolpersteinen und dieser Verlegung! Allen voran dem Künstler Gunter Demnig und seinem Team, Martina Wittkopp-Beine (Stadtarchivarin a.D.), Tanja Böhne (Stadtarchiv), Thomas Wittkowski (Straßenbauer beim städtischen Baubetriebshof) und natürlich bei allen Spendenden.

 

Hintergrund:

Die Stolpersteine sind ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig. Seit 1995 sind in deutschen Städten und Gemeinden, aber auch im europäischen Ausland diese Steine gesetzt worden. Bereits über 100.000 Gedenksteine hat er in 1.800 Städten in 28 Ländern bereits verlegt.

Die aus Beton gegossenen Erinnerungssteine tragen an der Oberseite eine 10 mal 10 Zentimeter große Messingtafel. In sie wird die Überschrift HIER WOHNTE und darunter der Name, die Lebensdaten und das weitere Schicksal jedes einzelnen Menschen mit Hammer und Schlagbuchstaben eingetragen. Die Gedenktafeln werden vor der letzten selbst gewählten Wohnadresse der Opfer in das Straßenpflaster eingelassen.

 

Die Informationen zu den an diesem Tag geehrten jüdischen Familien:

Familie Löwenthal

Die Familie Löwenthal gab es in Plettenberg seit Ende des 19. Jahrhunderts. Die Wurzeln der Familie lagen in Lenhausen, einem heutigen Ortsteil der Gemeinde Finnentrop. Dort wurde Louis Löwenthal als sechstes von neun Kindern des Handelsmanns Jonas Löwenthal am 12. März 1864 geboren. Über Louis Kindheits- und Jugendjahre ist nichts bekannt. Beruflich trat er aber in die Fußstapfen seines Vaters und wurde ebenfalls Kaufmann. Mit 31 Jahren heiratete er die Plettenbergerin Emma Heilbronn, Tochter des Metzgers Moritz Heilbronn. Nach der Hochzeit in Plettenberg hatte das Ehepaar seinen Lebensmittelpunkt zunächst in Lenhausen. Dort wurden auch die beiden Kinder Eugen (1896) und Käthe (1898) geboren. Kurz nach der Geburt der Tochter jedoch zog das Ehepaar nach Plettenberg und ließ sich in der Innenstadt nieder.

Ein kleiner allgemeiner Exkurs an dieser Stelle: Löwenthals waren übrigens nicht die einzigen, die von Lenhausen in eine Stadt verzogen. Ihr Umzug war eher typisch für eine Entwicklung, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abzeichnete. Nach und nach verließen alle jüdischen Familien den ländlichen Ort und zogen in größere Städte. Dies hing sicherlich damit zusammen, dass in den Städten ein berufliches Weiterkommen und ein besserer Verdienst möglich waren.

Zurück zu Löwenthals Geschichte. Der Umzug nach Plettenberg war nicht nur ein Ortswechsel. Mit ihm verbanden sich beruflich ganz neue Perspektiven und Herausforderungen. Louis Löwenthal machte sich selbständig. 1898 begründete er zusammen mit seinem Bruder Benjamin die „Gebr. Löwenthal offene Handelsgesellschaft“. Die Geschäftsräume der Handelsgesellschaft, „Kaufhaus Löwenthal“ genannt, befanden sich in der Wilhelmstraße, der Hauptstraße der Innenstadt. Übrigens ganz in der Nähe der Metzgerei seines Schwiegervaters Moritz und seines Schwagers Alex Heilbronn. Louis Löwenthals Einstieg in die Selbständigkeit zahlte sich aus, er war erfolgreich. Das Manufakturwarengeschäft Löwenthal gehörte schließlich zu den vier Kaufhäusern in der Stadt, die der Bürgerschaft ein breites Warenangebot im Bereich der Textil- und Manufakturwaren offerierten.

Kurz ein Blick auf die gesellschaftliche Verortung der Familie Löwenthal in Plettenberg in den 1920er Jahren: Die Löwenthals waren in Plettenberg nicht nur erfolgreiche Kaufleute. Die Familie war in Plettenberg auch sonst fest verankert. Eugen Löwenthal engagierte sich im Fußballverein, wo er sich um die Trikots und die Werbung kümmerte und Jahre im Festausschuss des Vereins mitarbeitete. Gleichzeitig war er Mitglied im TV Jahn und als passionierter Pianist spielte er im Städtischen Orchester. Die Firma Löwenthal unterstützte durch ihre Mitgliedschaft den Verein für Orts- und Heimatkunde im Süderland. Im häuslichen Umfeld beschäftigte man Hausangestellte mit katholischer und evangelischer Konfession, was auch bei den anderen jüdischen Plettenberger Familien durchaus nicht ungewöhnlich war. Kurzum: die Löwenthals waren gut im Plettenberger Vereinsleben verankert und dokumentierten das, was man deutsch-jüdische Symbiose nannte.

Zurück zu den familiären Perspektiven. 1924 starb Louis Bruder Benjamin. Das bedeutete eine Veränderung in der Handelsgesellschaft. Sohn Eugen wurde nun Mitinhaber des Geschäfts. Bis zum Beginn der 1930er Jahre führten Vater und Sohn erfolgreich das Geschäft. Unterstützt wurden sie dabei von Eugens Ehefrau Käthe. Eugen Löwenthal hatte 1930 die aus Unna stammende Käthe Marcus geheiratet. Die damals 22jährige kam aus einer Kaufmannsfamilie. Ihr Vater Emil Marcus besaß in Unna ein Textil-Kaufhaus. Die Arbeit in einem Textilgeschäft war für sie somit nichts Unbekanntes. Zudem verfügte sie über Erfahrungen, die sie im Rahmen ihrer Ausbildung in den Großstädten Dortmund und Hannover gesammelt hatte und die sie nun in das Geschäft von Löwenthals mit einbringen konnte.

Für Löwenthals war das Geschäftshaus gleichzeitig ihr Wohnhaus. Zunächst wohnten dort Louis und Emma mit ihren Kindern. Nach seiner Heirat lebte Sohn Eugen mit seiner Ehefrau ebenfalls mit im Haus.

Das Jahr 1933 mit Hitlers Machtübernahme bedeutete für die Löwenthals einen radikalen Einschnitt in ihr bisheriges Leben. Die unmittelbar nach der Machtübernahme gegen alle jüdischen Geschäftsleute gerichteten nationalsozialistischen Boykottmaßnahmen machten sich wie bei den anderen jüdischen Geschäftshäusern auch bei Löwenthals bemerkbar. Dennoch wollte Louis Löwenthal ähnlich wie sein Schwager Metzger Alex Heilbronn zu Anfang nicht den Ernst der Lage wirklich wahrhaben und war der Ansicht, dass Hitler nur eine kurze Episode in der Geschichte darstellen würde. Diese Ansicht vertrat vermutlich auch sein Sohn Eugen, der Kriegsteilnehmer im Ersten Weltkrieg gewesen war.  Man versuchte den Geschäftsbetrieb weiter aufrecht zu erhalten. 1938 jedoch musste Eugen Löwenthal schließlich kapitulieren und den Betrieb völlig einstellen. Vierzig Jahre nach Gründung fand die Geschichte des Kaufhauses Löwenthal unter der Geschäftsführung von Eugen Löwenthal ihr Ende. 1938 wurde Eugen Löwenthal gezwungen, sein Geschäft zu verkaufen. Es gab mehrere Interessenten. Schließlich erwarb der Plettenberger Spar- und Darlehnskassen-Verein das Geschäft. Das Warenlager übernahm 1938 Herbert Otto aus Plettenberg-Eiringhausen.

Die antijüdischen Gesetze und Maßnahmen der Jahre nach 1933 hatten bei Löwenthals ihre deutliche Wirkung und Spuren hinterlassen. Die Pogromnacht im November 1938 machte eins noch einmal ganz deutlich: Ein normales Leben war nicht mehr möglich. Louis und Eugen Löwenthal wurden verhaftet. Louis wurde altersbedingt wieder frei gelassen, sein Sohn zusammen mit anderen Plettenberger Juden in das KZ Sachsenhausen deportiert. Nach mehrwöchiger Inhaftierung, physischer und psychischer Erniedrigung wurde er am 15. Dezember 1938 aus der Haft entlassen und kehrte nach Plettenberg zurück. Die Inhaftierung in Sachsenhausen hatte die eindringliche Gewissheit gebracht, dass in Deutschland kein Platz mehr für ihn und seine Frau ist und sie ihre Auswanderung systematisch zu betreiben hatten. Anfang 1939 beantragten die Löwenthals die Ausreise nach Chile oder Bolivien. Die Ausreise gelang dem Ehepaar jedoch nicht mehr.

Eugen Löwenthal und seine Frau wurden am 30. April 1942 zum Südbahnhof in Dortmund gebracht, wo sie die Deportation in den Osten nach Zamosc erwartete. Eugen Löwenthal war 41 Jahre alt, seine Frau Käte war 34, als sie den Zug bestiegen, der sie und die anderen jüdischen Mitmenschen ohne Ausnahme dem Vernichtungsprozess der „Endlösung“ zuführte.

Das in Plettenberg verbliebene Hab und Gut von Eugen und Käthe Löwenthal wurde nach ihrer Deportation vom Finanzamt Altena übernommen und mit dessen Einverständnis dann an „Bedürftige“ in Plettenberg verkauft. Eugen Löwenthals Eltern Louis und Emma Löwenthal blieben in Plettenberg. Ein paar Wochen nach der Deportation seines Sohnes jedoch starb Louis Löwenthal am 16. Juni 1942 nachts um 23 Uhr in seiner Wohnung.

Nun lebte von den Löwenthals nur noch Emma Löwenthal in Plettenberg. Sie verblieb dort ebenso wie ihr Bruder Alex Heilbronn und seine Frau Helene bis zu ihrer Deportation. Es war jedoch nur knapp ein Monat. Emma Löwenthals Deportation erfolgte im Juli 1942. Am 29. Juli 1942 wurde sie ab Dortmund zusammen mit ihrem Bruder Alex Heilbronn und seiner Frau mit dem Transport X/1, Nr. 325 ins Ghetto nach Theresienstadt deportiert. Emma Löwenthal war zu diesem Zeitpunkt 77 Jahre alt. Auf der Deportationsliste wurden die drei untereinander aufgeführt. Alex hatte die Nummer 994, Helene die Nummer 995 und Emma die Nummer 996.

Emma blieb fast zwei Monate im Ghetto Theresienstadt. Dann wurde sie am 23. September 1942 mit dem Transport Bq, Nr. 996 in das Vernichtungslager Treblinka deportiert. Dort wurde Emma Löwenthal ermordet.

 

Familie Nussbaum

Die Wurzeln der Familie Nussbaum führen uns eigentlich in das hessische Fulda. Dort wurde Max Nussbaum am 2. Mai 1896 als fünftes von sieben Kindern des Kaufmanns Abraham Nussbaum und seiner Frau Hannchen geboren. Und dort verlebte er auch fast nahezu die ersten 18 Jahre seines Lebens. Mit 20 Jahren jedoch wurde er dann als Soldat in der Garnison Hanau stationiert und kehrte erst Anfang 1919 zu seinen Eltern zurück nach Fulda. Ende 1920 verließ er erneut Fulda mit Ziel Frankfurt am Main. Irgendwann in den darauffolgenden Jahren verzog er nach Dortmund. Sein Weg dorthin bleibt leider im Unklaren. Beruflich war Max Nussbaum als Kaufmann und Vertreter tätig.

Im August 1927 heiratete er. An dieser Stelle führen die Spuren nun nach Plettenberg. Seine Ehefrau wurde die 23jährige Plettenberger Jüdin Hedwig Sternberg. Hedwig Sternberg stammte ebenfalls aus einer Kaufmannsfamilie. Ihr Vater, Sally Sternberg, war der Kaufmann und spätere Alleininhaber des Kaufhauses für Manufaktur- und Modenwaren und Herrenbekleidung „Sternberg“. Das Ehepaar Nussbaum heiratete beim Standesamt Plettenberg. Trauzeugen waren der Vater der Braut sowie der Viehhändler Leo Hesse. Nach der Eheschließung zog Hedwig Sternberg zu ihrem Mann nach Dortmund, der dort seinen Lebensmittelpunkt hatte. Im Juni 1928 wurde Sohn Alfred Gerd geboren.

Fünf Jahre nach der Geburt des Sohnes kehrte Hedwig Nussbaum im Februar 1933 mit ihrem Sohn von Dortmund nach Plettenberg zurück. Sie wohnte fortan zur Miete bei ihrem Bruder Erich Sternberg, ebenfalls Kaufmann wie sein Vater und späterer Geschäftsführer des Kaufhauses, in der Adolf-Hitler-Straße 19, vorher Neue Straße 10. Ein Jahr später, April 1934, wurde Sohn Alfred Gerd, noch keine sechs Jahre alt, an der ev. Volksschule in Plettenberg angemeldet. Im Oktober 1938 schließlich zog auch Max Nussbaum nach Plettenberg. Er war nach dem Umzug seiner Frau Hedwig in Dortmund geblieben. Lange sollte es ihn jedoch nicht in Plettenberg halten.

Sieben Monate später, im April 1939 kehrte er zusammen mit Frau und Sohn nach Dortmund zurück. Die Familie wohnte nun in der Adolf-Hitler-Allee (heute Hainallee). Ein wesentlicher Grund für die Abkehr von Plettenberg dürften die Erlebnisse der „Reichspogromnacht“ im November 1938 in Plettenberg gewesen sein. Max Nussbaum wurde zusammen mit 19 weiteren jüdischen Männern, darunter auch sein Schwager Erich Sternberg, verhaftet und in „Schutzhaft“ genommen. Ob er, wie ein Teil der anderen inhaftierten, ebenfalls nach Sachsenhausen deportiert wurde, ist leider unbekannt. Mit dem Umzug nach Dortmund versprach er sich vermutlich die Möglichkeit des Abtauchens in die Anonymität einer Großstadt. Eins war dem Ehepaar Nussbaum zu diesem Zeitpunkt sicherlich klargeworden: Dauerhaft war für sie kein Platz mehr in Deutschland.

Eine erste Konsequenz aus dieser Erkenntnis zogen sie, als sie noch in Plettenberg lebten. Für ihren Sohn stellten sie einen Ausreiseantrag mit Ziel Holland oder England. Der Antrag wurde genehmigt, die Ausreise aber, warum auch immer, nicht weiter verfolgt. Gedemütigt und entrechtet verstirbt Max Nussbaum am 2. Mai 1940 im Alter von nur 44 Jahren in Dortmund. Hedwig Nussbaum und ihr Sohn Alfred Gerd lebten nun allein in Dortmund. Kurz nach dem Tod ihres Mannes wechselte sie die Wohnung und zieht ins Dortmunder Kaiserviertel in die Arndtstraße. Ein Jahr später, im Frühjahr 1941, stellte sie für sich und ihren Sohn einen Auswanderungsantrag. Als Auswanderungsland gibt sie Nord-Amerika an, wo schon Verwandte von ihr lebten.

Um auswandern zu können, waren verschiedene Voraussetzungen zu erfüllen. Hedwig Nussbaum musste ein „Umzugsgutverzeichnis“ ausfüllen und darin eintragen, was sie von ihrem persönlichen Besitz für sich und ihren Sohn mitnehmen wollte. Für sie zählte dazu auch ihre gesamte Aussteuer, die sie 1927 anlässlich ihrer Heirat bekommen hatte. Zudem war ein „Fragebogen für Auswanderer“ auszufüllen, in dem u.a. auch das Gesamtvermögen aufzuführen war. Hedwig Nussbaum besaß 5533 Reichsmark. Das „Umzugsgutverzeichnis“ und der ausgefüllten Fragebogen waren dann an die Devisenstelle der Oberfinanzdirektion in Münster zu schicken. Diese ließ die Listen von einem für sie tätigen Sachverständigen, einem Dortmunder Obergerichtsvollzieher, prüfen und den Wert der aufgeführten Gegenstände schätzen. Die Prüfung erfolgt sehr genau, einige Gegenstände wie Bettbezüge, Kissenbezüge, Handtücher wurden von den Listen gestrichen. Diese Gegenstände, so die Devisenstelle in einem Schreiben an Hedwig Nussbaum, „sind entweder freihändig zu veräußern oder an die zuständige Zweigstelle der Reichsvereinigung der Juden, Abtlg. Fürsorge (Kleiderkammer) abzuliefern“. Für Hedwig Nussbaum bedeutete das konkret: Sie musste die Sachen so schnell wie möglich verkaufen oder verschenken, denn so der Gutachter weiter: „Die Genehmigung zur Mitnahme Ihres Reise- und Handgepäcks kann erst erteilt werden, wenn mir die Veräußerung der gestrichenen Gegenstände oder die Ablieferung an die Kleiderkammer nachgewiesen ist“.

Erhebliche Einbußen gab es auch im finanziellen Bereich. Ihr Gesamtvermögen von 5533 Reichsmark hätte Hedwig Nussbaum nicht mitnehmen dürfen. Generell durften bei der Auswanderung nur noch maximal 2000 Reichsmark ausgeführt werden. Von diesem Geld hatte sie jedoch noch 802 Reichsmark Abgabe auf das Umzugsgut zu bezahlen. Somit blieben ihr letztlich von den ursprünglich 5533 Reichsmark nur noch 1198.

Wie Mutter und Sohn das Jahr 1941 in Dortmund noch verlebt haben, wissen wir nicht. Laut dem Dortmunder Gedenkbuch „Verfolgung und Vernichtung. Die Dortmunder Opfer der Shoa“ von 2015 waren die jüdischen Menschen in Dortmund und vielleicht auch die beiden Nussbaums, zu diesem Zeitpunkt „trotz aller sozialer Isolation, Entrechtung und Ausplünderung“ noch von der Hoffnung getragen, „vom Schlimmsten vielleicht doch verschont zu bleiben, die Familie zusammenhalten zu können, nicht die Heimat, die Wohnung und alles, was das bisherige Leben ausmachte, zurücklassen zu müssen“. Dass sich diese Hoffnung nicht erfüllen würde, kündigte sich Ende 1941 an. In einem Mitteilungsschreiben wurde die bevorstehende „Evakuierung“ angekündigt. Aus der Ankündigung wurde Realität.

Hedwig Nussbaum und ihr Sohn gehörten zu den 332 Personen aus Dortmund, die zusammen mit weiteren jüdischen Männer und Frauen aus anderen Städten der Regierungsbezirke Arnsberg und Münster am 27. Januar 1942 von Dortmund nach Riga deportiert wurden. Der Dortmunder Transport erreichte am 1. Februar 1942 den Zielbahnhof Riga-Skirotava. Die Spuren der Dortmunder Jüdinnen und Juden, die nach Riga verschleppt und ermordet wurden, lassen sich mangels schriftlicher Aufzeichnungen nicht mehr verfolgen. Von daher ist es schwierig, den genauen Tosdesort der Deportierten in Riga und Umgebung zu bestimmen.

Bei Hedwig und Alfred Gerd Nussbaum spricht einiges dafür, dass sie nicht in Riga verblieben sind. Sie wurden weiter deportiert. Endstation war vermutlich das Vernichtungslager Stutthof. Laut Information des Internationalen Zentrums über NS-Opfer in Arolsen lässt sich für Hedwig Nussbaum nachweisen, dass sie am 4. August 1944 von der Sicherheitspolizei Kauen in das 37 Kilometer östlich von Danzig liegende KZ Stutthof eingeliefert. Sie trug die Häftlingsnummer 54973.

Der 13jährige Alfred Gerd Nussbaum und die 37jährige Hedwig Nussbaum haben den Holocaust nicht überlebt. Sie wurden Opfer des Vernichtungsfeldzuges des Nationalsozialismus. Sie wurden ermordet. Hedwig Sternbergs Brüder Erich und Kurt Sternberg haben den Holocaust überlebt. Ihnen gelang es, noch rechtzeitig aus Deutschland zu flüchten.

 

Familie Hesse

Die Familie Hesse stammte, wie auch die Familien Nussbaum oder Löwenthal, ursprünglich nicht aus Plettenberg. Die Familie war ansässig in der Nähe der Soester Börde gelegenen Stadt Werl. Hier wurde am 1. April 1887 Leo Hesse geboren. Seine Eltern waren der Viehhändler Isaak Hesse und seine Frau Emma. Das Ehepaar hatte 13 Kinder, wovon einige noch im Säuglingsalter verstarben. Leo war das 10. Kind. Die Familie Hesse war augenscheinlich in Werl fest verankert. Man war Mitbegründer eines jüdischen Gesangvereins, war Mitglied im Turnverein, feierte private Feste und pflegte Freundschaften mit christlichen Werlern, engagierte sich in der Werler Synagogengemeinde. Hier wurde Leo Hesse 1919 zu einem der Repräsentanten gewählt. Beruflich folgte Leo Hesse seinem Vater. Er wurde ebenfalls Viehhändler.

Schließlich heiratete Leo Hesse die aus dem Kreis Bückeburg stammende Julie Schönfeld. 1915 wurde das gemeinsame Kind geboren, das jedoch noch am Tag seiner Geburt starb. 1916 starb auch Julie Hesse. Im Alter von 29 Jahren war Leo Hesse Witwer. Vier Jahre später jedoch heiratete er erneut. Die neue Ehepartnerin wurde die Plettenberger Jüdin Rosalie Lennhoff. Sie war die Tochter des Metzgers Levy Lennhoff und seiner Ehefrau Johanna. Das Ehepaar Lennhoff hatte acht Kinder und Rosalie wurde als siebtes Kind am 17. April 1894 in Plettenberg geboren. Am 30. Juli 1920 schlossen Leo Hesse und Rosalie Lennhoff vor dem Standesamt in Plettenberg die Ehe. Trauzeugen waren der Studienrat Gustav Richter und der Schlosser Wilhelm Kortmann. Beides Personen, die nicht aus dem engeren jüdischen Umfeld stammten. Mit der Eheschließung zog Leo Hesse von Werl nach Plettenberg.

Das Ehepaar wohnte fortan in der Graf-Dietrich Straße in der Plettenberger Innenstadt. Leo Hesse arbeitete als Viehhändler. Recht schnell integrierte er sich auch in die städtische Gesellschaft vor Ort. Ein paar Monate nach seinem Umzug nach Plettenberg wurde er Mitglied im Turnverein Jahn, in dem auch zeitweise seine Frau Rosa aktiv war. Ebenso unterstützte er durch seine Mitgliedschaft im Denkmalbauverein den Bau des „Heldendenkmals auf dem Hirtenboehl“. Die 1920er Jahre waren für Leo und Rosa Hesse sicherlich gute Jahre, eine insgesamt glückliche Zeit.

Dann kam das Jahr 1933. Für die Hesses bedeutete Hitlers Machtübernahme wie für die anderen jüdischen Bürgerinnen und Bürger einen radikalen Einschnitt in ihr bisheriges Leben. Zunächst glaubte man vielleicht noch, dass man selbst davon nicht berührt würde. Ein erstes kleines Zeichen, dass dies ein Trugschluss war, war der Ausschluss aus dem Turnverein 1933. Die Deutsche Turnerschaft hatte beschlossen, dass Juden aus den deutschen Sportorganisationen auszuschließen waren. Leo Hesse musste den Verein verlassen. Der Boykott der jüdischen Geschäfte am 1. April 1933, von dem Rosa Hesses Verwandtschaft mit ihrer Metzgerei betroffen war und auch die antijüdischen Gesetze und Maßnahmen der folgenden Jahre machten Hesses eins deutlich: Ein normales Leben war nicht mehr möglich.

Radikal erlebte dies das Ehepaar in der Pogromnacht im November 1938. Leo Hesse wurde verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin deportiert. Nach mehrwöchiger Inhaftierung, physischer und psychischer Erniedrigung wurde er schließlich am 22. Dezember 1938 aus der Haft entlassen und kehrte nach Plettenberg zurück. Eins hatte die Inhaftierung den Hesses deutlich gemacht: Für sie war kein Platz mehr in Deutschland. Kaum in Plettenberg angekommen, beschloss das Ehepaar also, Deutschland zu verlassen. Leo Hesse beantragte im Januar 1939 einen Auswanderungsschein nach Frankreich, der ihm jedoch verweigert wurde. Das Ehepaar musste also zunächst weiterhin in Plettenberg leben.

Die Lebenssituation verschlechterte sich zunehmend. An eine Tätigkeit in seinem Beruf als Viehhändler war für Leo Hesse nicht mehr zu denken. Und ein Vermögen besaß das Ehepaar auch nicht. Um überhaupt noch über die Runden zu kommen, nahm Leo Hesse bei einer Baufirma eine Stelle als Straßenarbeiter an. Er arbeitete auf Stundenlohnbasis und zunächst scheint der monatliche Durchschnittsverdienst von 110 Mark noch ausgereicht zu haben. Doch mit Beginn der Winterzeit, der frühen Dunkelheit und dem Eintreten von schlechtem Wetter wurde das monatliche Einkommen immer geringer.

Schließlich machten sich Hesses auf den Weg. Am 18. Februar 1941 verließen sie Plettenberg und zogen nach Wuppertal-Barmen in die Adolf-Hitler-Str. 283. In diesem Haus lebten gute, alte Freunde aus Plettenberg, Hugo und Johanna Neufeld, sie waren schon 1940 nach Barmen verzogen.

Neun Monate blieben Hesses noch an ihrem neuen Wohnort. Im November 1941 ist das Leben von Leo und Rosalie Hesse in Wuppertal jedoch zu Ende. Am 9. November 1941 begann ihre Reise in den Tod. An diesem Tag wurden sie von Wuppertal nach Düsseldorf gebracht. Von dort wurden sie am 10. November 1941 nach Minsk in Weißrussland in das dortige Ghetto deportiert. Im selben Deportationszug fuhren auch ihre Freunde und Nachbarn, Hugo und Johanna Neufeld mit. Nach vier Tagen mit vielen Unterbrechungen erreichte der Zug den Bestimmungsort Minsk. Ein Schutzpolizist, der den Transport begleitete, berichtete: "Die Juden waren um diese Zeit ziemlich weich, da der Zug vielfach unbeheizt liegengeblieben war und vor allem seit Einfahrt ins russische Gebiet keine Möglichkeit mehr gegeben war, Wasser zu fassen...".

Von den Menschen, die am 10. November von Düsseldorf nach Minsk deportiert worden sind, haben nur vier überlebt. Leo und Rosa Hesse sowie ihre Freunde Hugo und Johanna Neufeld gehörten zu den tausenden an Menschen, die das Ghetto nicht überlebten.