Die menschenverachtenden Taten und Schrecken des Nationalsozialismus scheinen für viele Menschen heute weit weg. Umso wichtiger ist die Erinnerung an diese Gräueltaten. Seit 2008 tut dies der Kölner Künstler Gunter Demnig mit den „Stolpersteinen“ auch in Plettenberg.
In das Pflaster eingelassen, stechen sie durch ihren metallenen Glanz optisch hervor und fallen den Fußgängerinnen und Fußgängern auf. Wir stolpern über unsere eigene Geschichte. Auf den Stolpersteinen finden sich die Geburts- und Todesdaten von Opfern des NS-Regimes. Solche Opfer hat es auch in der Vier-Täler-Stadt gegeben. Die Schrecken rücken so näher an uns heran. In Form der Stolpersteine und unserer Gedanken beim Lesen der Inschriften.
Nachdem einige dieser Stolpersteine im Rahmen der Innenstadtumgestaltung entnommen wurden, sind sie jetzt wieder eingesetzt worden. Zeit, mit der Stadtarchivarin Martina Wittkopp-Beine über diese wichtigen Mahnmale zu sprechen.
Stadtsprecher Hanno Grundmann hat sich mit ihr getroffen und nachgehakt.
Frau Wittkopp-Beine, vielen Dank vorab für die Möglichkeit, genauer auf dieses wichtige Thema „Stolpersteine“ einzugehen. Sie sind ja federführend in dieser Sache. Satteln wir das Pferd etwas von hinten auf. Es wurden Stolpersteine entnommen, einige mussten aufgrund eines Missgeschicks ersetzt werden. Das Wichtige ist aber: Die Stolpersteine sind wieder da. Wo finden wir sie?
Die Steine von Julius und Olga Bachrach, Johanna und Hugo Neufeld und Meta Lievendag sind Am Obertor 4 zu sehen. Am Alten Markt 3 liegen die Stolpersteine der Familie Heilbronn, Am Alten Markt vor dem Haus zur Sonne der von Jakob Kurth. Die Steine von Dina und Alice Sternberg finden sich in der Wilhelmstraße 24.
Jetzt könnten wir einfach sagen: Gut, das war die Bekanntgabe, fertig. Aber das wird den Stolpersteinen nicht gerecht. Uns beiden war im Vorgespräch wichtig, dass wir mehr vermitteln wollen, auch anhand eines der Schicksale.
Richtig. Bleiben wir doch bei Alice Sternberg. Sie wurde 1921 als Tochter des Kaufmanns Max Sternberg und seiner Frau Dina geboren. Sie war das dritte und schließlich einzige Kind der Sternbergs. Die beiden anderen Töchter waren nach der Geburt verstorben. Alice lebte mit ihren Eltern in der Wilhelmstraße. Ihr Vater besaß dort seit Mitte der 1920er Jahre ein Wohn- und Geschäftshaus, das jedoch schon seit der Jahrhundertwende zum Familienbesitz der Sternbergs gehörte. Das Textileinzelhandelsgeschäft wurde der „Untere Sternberg“ genannt. Diese Bezeichnung diente zur Abgrenzung vom „Oberen Sternberg“, einem anderen jüdischen Geschäft Sternberg. Dieses lag an Wilhelmstraße / Ecke Neue Straße.
Alice Sternberg besuchte zunächst die Grundschule. Ihre schulische Beurteilung bescheinigte ihr Fleiß, gutes Benehmen und gute schulische Leistungen. 1932 verließ sie die Grundschule und wechselte zur Realschule. Im Jahr 1934 verstarb der Vater. Fortan lebte sie mit ihrer Mutter allein in Plettenberg. Ende 1938 jedoch verließen Mutter und Tochter die Stadt. Sie zogen nach Aachen. Sicherlich nicht freiwillig, aber vielleicht in der Hoffnung dort Ruhe zu finden und sicherer zu sein. Die unmittelbar nach der Machtübernahme gegen die jüdischen Geschäftsleute gerichteten nationalsozialistischen Boykottmaßnahmen, die antijüdischen Gesetzte und Maßnahmen der Jahre nach 1933, die Pogromnacht im November 1938 und letztlich der zwanghafte Verkauf des Geschäfts- und Wohnhauses im November 1938 führten bei Alice Sternberg und ihrer Mutter dazu, Plettenberg schnellstmöglich zu verlassen.
In Aachen wohnten die beiden zunächst in einem Wohnhaus, in das auch die Sakoms einzogen, eine andere jüdische Familie aus Plettenberg. Vier ganze Monate lebte Alice mit ihrer Mutter Dina Sternberg dort. Im Mai 1939 ging Alice Sternberg nach Köln, um dort einen Beruf zu erlernen. Am „Israelitischen Krankenhaus für Kranke und Altersschwache“ machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester. Mit dem Wegzug nach Köln trennten sich die Schicksalswege von Mutter und Tochter und zwar für immer.
Alice Sternberg lebte drei Jahre in Köln. Während ihrer Ausbildung war Alice Sternberg stark in die Krankenhausarbeit eingespannt, leistete über mehrere Wochen ununterbrochen Nachtwache. Anfang der 1940er Jahre bestand Alice erfolgreich ihr Examen und arbeitete fortan im israelitischen Krankenhaus als Krankenschwester. Sie arbeitete dort rund anderthalb Jahre.
Eine bemerkenswerte junge Frau, die ihren Weg ging. Doch bald kam neben dem schrecklichen Krieg bestimmt leider der NS-Apparat dazwischen?
Ja, so ist es. Ende Mai 1942, nach einem schweren Bombenangriff auf Köln, wurde das Israelitische Krankenhaus geräumt. Patienten und Personal wurden in das Lager Köln-Müngersdorf gebracht. Als sie dort ankamen, fanden sie ein überfülltes Lager vor, dessen Insassen auf die Zuweisung zu ihren Deportationen warteten. Dort lebte und arbeitete nun auch Alice Sternberg. Es war der letzte „Wohn- und Arbeitsort“ von Alice Sternberg in Köln, bevor sie im Juni Köln verlassen musste.
Am 15. Juni 1942 wurde Alice zusammen mit weit über 900 anderen Frauen und Männern von Köln in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Sie war zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt. In Theresienstadt blieb sie über zwei Jahre. Mitte Oktober 1944 wurde sie jedoch mit weiteren 1500 Frauen und Männern in das größte deutsche Vernichtungslager während der Zeit des Nationalsozialismus verschleppt, nach Auschwitz-Birkenau. Im Alter von 23 Jahren wurde Alice Sternberg ermordet.
Wenn man bedenkt, dass unsereins im Alter von 23 eigentlich völlig sorgenfrei gelebt hat… ist heutzutage aber auch schon wieder etwas anders. Frau Wittkopp-Beine, warum sind aus Ihrer Sicht diese Stolpersteine so wichtig?
Mit den Gedenksteinen, den Stolpersteinen, soll an das Schicksal der Menschen erinnert werden, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, vertrieben, verschleppt, ermordet oder in den Suizid getrieben wurden. Die Steine erzählen die Geschichten der Menschen, die Opfer des nationalsozialistischen Terror-Regimes wurden. In Plettenberg sind die Stolpersteine ein wichtiger Bestandteil der lokalen Erinnerungskultur und ein sichtbarer Beitrag gegen das Vergessen. Dieses ist, wie Sie eben angedeutet haben, gegenwärtig wieder umso wichtiger geworden, da der Rassismus innerhalb unserer Gesellschaft verstärkt zugenommen hat und teilweise sogar immer wieder in schockierende Gewalt umschlägt – wie 2019 in Halle oder 2020 in Hanau. Die Stolpersteine sind also meines Erachtens deshalb so wichtig, weil mit ihnen eine demokratische Geschichtskultur nachhaltig befördert wird.
Das sehe ich auch so. Und da möchte ich dann in diesem Zusammenhang sagen: Es werden mehr Stolpersteine kommen, richtig?
Ja! Was mich sehr freut: Für das kommende Jahr 2023 ist geplant, voraussichtlich im Juni, neun neue Stolpersteine durch Gunter Demnig verlegen zu lassen. Diese Steine erinnern dann an die Familien Nussbaum, Loewenthal und Hesse.
Das ist doch ein würdiger Abschluss für unser kleines, aber nicht weniger wichtiges Gespräch. Vielen Dank Martina Wittkopp-Beine, Archivarin der Stadt Plettenberg.
Übrigens: Die Stolpersteine wurden während der Arbeiten zuerst vom Heimatkreis Plettenberg verwahrt. Später sind sie dann im Stadtarchiv aufbewahrt worden. Zwischendurch wurden sie gereinigt. Die Stadt Plettenberg möchte allen danken, die an den „Stolpersteinen in Plettenberg“ beteiligt waren, sind und sein werden. Angefangen beim Künstler Gunter Demnig, über Stadtarchivarin Martina Wittkopp-Beine und Franco Murgia aus dem Sachgebiet Planen und Bauen, bis hin zu den fleißigen Helfern des städtischen Baubetriebshofs.